19.06.2017 - Blogartikel von Roland Schmidkunz
Hausaufgaben gemacht – aber die falschen
„80/20" oder doch lieber „60/15"? Kennen Sie diese Diskussion? Ich liebe auch die Frage „Was, Sie steuern noch immer nur nach Erreichbarkeit?". Ich kenne diese Diskussionen seit ich in dieser Branche tätig bin und das ist seit Mitte der 90er Jahre. Bevor ich jetzt allerdings eine Abhandlung übers älter werden verfasse, wende ich mich lieber wieder dem Service Level Thema zu. Nach wie vor ist der Service Level für die „Fortgeschrittenen" oder die Erreichbarkeit „für die ganz Traditionellen" das zentrale Steuerungsinstrument für den Service Betrieb. Und nach wie vor ist es unverständlich. Offenbar ist es aber DIE wichtigste Kennzahl in unserer Branche. Ist nicht so?
Ich meine doch: Nach wie vor ist zu beobachten, dass diese Kennzahl immer als eine der ersten in den Management Reports auftaucht. Er steht in jedem größeren Center, teils minütlich aktualisiert, auf irgendwelchen Wallboards - wenn auch manchmal in abgewandelter Form. Und das ganz entscheidende Thema: Der Service Level veranlasst das Top Management immer wieder zu unangenehmen Anrufen im Service Management oder in der Steuerung. „Was war denn gestern los?" oder „Haben wir gerade ein Problem?" sind Fragestellungen, die jeder Service Verantwortliche von seinem Vorgesetzten kennt. Ich bin mir sicher, würde man eine Erhebung über alle Servicebereiche in Deutschland machen, der Service Level wäre die mit großem Abstand am häufigsten gemessene Kennzahl. Und leider auch die Kennzahl, die am meisten zu irgendwelchen Aktivitäten im Management führt, ob nun sinnvoll oder nicht.
Aber ist es wirklich ein Service Level? Und ist es diese Kennzahl eigentlich wert, dass man so immensen Management Fokus darauf legt? Nein! Der Service Level hat mit Service rein gar nichts zu tun! Service geht anders. Und nein, auch die Fokussierung des Managements auf diese Kennzahl ist absolut überzogen.
Sehen wir einmal näher hin. Dass es sich beim Service Level um eine reine quantitative Betrachtung handelt, ist offensichtlich. Was sagt er aber aus? Aus meiner Sicht ein Ergebnis aus 60% guter Planung und 40% Zufall. Natürlich, er misst, wie lange Kunden im Durchschnitt im gemessenen Zeitraum bis zur Entgegennahme des Gespräches gewartet haben. Mehr aber auch nicht. Er sagt nichts darüber aus, ob das für den Kunden gut oder schlecht war, er sagt auch nichts über qualitative Aspekte aus, es ist das Messen eines Planungsparameters.
Mit einem immensen Aufwand werden Call Forecasts erstellt. Calls werden auf Tage und auf einzelne Intervalle heruntergebrochen. Erlang C oder exotischere Funktionen ermitteln den exakten Mitarbeiterbedarf – mathematisch exakt, wissenschaftlich fundiert. Es gibt Forecasting Modelle und Systeme, die eine wirklich hohe Trefferquote erzeugen. Das war dann aber auch schon die gesamte Exaktheit... denn dann kommt der Mensch. Schichtplankünstler müssen im nächsten Schritt das geforecastete Volumen mit Schichten füllen. Und dabei arbeitsrechtliche Vorschriften berücksichtigen, Betriebsvereinbarungen, Mitarbeiterwünsche oder Vorlieben und, und, und... Und wenn mit den bestehenden Möglichkeiten die prognostizierten Volumina nicht abgedeckt werden können oder einfach nicht genügend Kontakte da sind, dann? Ja genau, dann wird improvisiert. Und ab hier hat der Service Level seine Namensberechtigung dann verloren. Denn die Instrumente, um den Schichtplan doch noch sinnvoll an den Forecast anzupassen, sind meist "2nd best choice". Dann kommt der eigentliche Einsatztag. Und die Unwägbarkeiten des wahren Lebens. Zwei Faktoren beschleunigen den Pulsschlag der Steuerungsverantwortlichen. Die Mitarbeiterabdeckung ist schlechter als geplant, weil bspw. ein Magen-Darm Virus kursiert oder die operative Führung zu viele Tage frei gegeben hat, ohne sich abzustimmen, oder es kontaktieren einfach deutlich mehr Kunden das Unternehmen als vorhergesehen. Möglicherweise weil die Erreichbarkeit an den Vortagen auch nicht gut war. Und dann geht es das nächste Mal ans Improvisieren. Kurzfristig müssen Kapazitäten dazu gebucht werden, Dienste verlängert, .... Sie kennen das.
Im Ergebnis konnte der Service Level gerettet werden. Aber wie, wenn Kollegen mit eingesprungen sind, die normalerweise etwas anderes machen. Wenn Gesprächszeiten reduziert wurden und Mitarbeiter ihre Schichten verlängert haben. Wenn Überläufe geschaltet wurden. Wurde dann noch der gleiche Service geboten, der normalerweise geboten wird? Also nicht quantitativ, sondern qualitativ? Mit Sicherheit nicht! Und noch eine Beobachtung: Es gibt durchaus differenzierte Sichtweisen und Handlungsweisen, wenn man die Kanäle Telefon und E-Mail vergleicht. Während mancherorts die Welt untergehen zu droht, weil der telefonische Service Level schon den 2. Tag unter Ziel ist, werden Service Level Verfehlungen im E-Mail Bereich stärker toleriert, als im telefonischen. Die Ursache liegt auf der Hand. Eine eingegangene E-Mail ist archivierbar, ein Anruf nicht. Es scheint also logisch, bei Engpässen zunächst die Ressourcen auf den telefonischen Service Level zu fokussieren. Aber wie sieht der Kunde das? Hat der Kunde eine ähnlich gelagerte Priorität im Hinterkopf. Dort ist sie eigentlich eher umgekehrt. Wenn man sich die Zeit nimmt, einen Sachverhalt schriftlich zu formulieren, hat dies seine Gründe. Entweder weil Fakten ausführlich dargelegt werden, weil die Situation einen gewissen Eskalationsgrad erreicht hat oder weil wichtige Informationen mit übersendet werden müssen. Hier wäre also das Gebot, sich stärker auf die schriftlichen Service Levels zu fokussieren, da die dringlicheren Anliegen dort zu vermuten sind.
Bequemlichkeit und Service – keine guten Banknachbarn!
Warum also hat der Service Level so eine zentrale Rolle. Es soll hier nicht abgestritten werden, dass es absolut notwendig ist, als Unternehmen „erreichbar" zu sein. Jeder kennt Situationen, in denen ein Unternehmen nicht erreichbar war und kann sie auch auf Knopfdruck zitieren. Also keine Frage, es geht hier um die überzogene Fokussierung auf den telefonischen Service Level, darum dass Steuerungs-Aktivitäten in einer Schieflage sind. Dies hat aus unserer Sicht zwei Gründe:
- Der Service Level ist eine „harte" Kennzahl. Zweifelsfrei gemessen durch die TK Anlage und definitiv ohne Interpretationsspielraum. Führungskräfte, vor allem junge Führungskräfte, mögen so etwas. Ein binäres Ergebnis 0 oder 1 - gut oder schlecht.
- Service Level Daten sind in hohem Maße einfach verfügbar. Seit Anbeginn von ACD Anlagen spielten die Reporting-Bausteine der Anbieter eine große Rolle. Da auf kleinster Ebene Anwahlversuche, geführte Gespräche und Annahmezeiten statistisch festgehalten werden, ist es ein leichtes, Reports in diesem Zusammenhang beinahe in beliebiger Detaillierung zu erstellen. Der Service Level ist also auf Intervall-, Stunden-, Tages-, Wochenbasis (usw.) verfügbar und vor allem auch schnell abrufbar. Außerdem wird er in Realtime angezeigt.
Vergleicht man diese hohe Verfügbarkeit und den nicht vorhandenen Interpretationsbedarf mit qualitativen Kennzahlen, die wirklich eine ganzheitliche Aussage über den Service liefern, so herrscht ein Ungleichgewicht. Qualitäts- oder Servicekennzahlen sind immer zu interpretieren, Ihre Entwicklung ist selten eindeutig auf nur eine Handlung zurück zu führen, sie sind immer historisch mit teilweise großem zeitlichen Verzug. Im Vergleich zum Service Level also durchaus nicht so hart argumentierbar und nicht so hoch verfügbar. Darüber hinaus haben sich qualitative Kennzahlen noch nicht ausreichend und übergreifend durchgesetzt. Immer größerer Beliebtheit erfreut sich aktuell der NPS, aber auch hier gibt es „Glaubensfragen" und große Interpretationsspielräume.
Worum aber geht es unseren Kunden? Unbestritten ist, dass ein Service erreichbar sein muss. 15 Minuten in einer Warteschleife zu hängen, ist genauso inakzeptabel, wie eine E-Mail Response nach einer Woche. Und hier möchte ich nicht missverstanden werden, das ist inakzeptabel.
Wo ist aber der Trade off? Ab wann beginnt die Dauer in der Warteschleife tatsächlich inakzeptabel zu werden, wo geht es noch? Begeistert ein frühes Entgegennehmen der Anrufe oder das frühe Beantworten der E-Mails einen Kunden? Aus meiner Beobachtung hat sich hier etwas verselbständigt. Grundsätzlich muss ein Unternehmen, das den Kundenservice ernst nimmt, eine schnelle Reaktionszeit haben. Aber zum einen gilt dies wohl eher als eine grundsätzliche Aussage. Kein Kunde würde eine gute Erreichbarkeit bei mittelmäßiger bis schlechter Beratungsleistung als Folge akzeptieren. Zum anderen ist hier auch zu beleuchten, wann dieser Service erbracht werden muss.
Ich kann mich noch sehr gut an die Jahrtausendwende erinnern, wo ein wahrer Hype um die 24/7 Aktivitäten entstand. Man war als Unternehmen fast schon geächtet, wenn man seine Kunden nicht rund um die Uhr an 7 Tagen in der Woche betreuen konnte oder wollte. Sicherlich, hier ist zu differenzieren. „Versorgungsprovider" beispielsweise, die uns mit Strom, Gas, Internet oder Telefonie versorgen, sollten durchaus rund um die Uhr erreichbar sein. Nicht etwa, weil man mitten in der Nacht eine Frage zu seiner Rechnung hat, sondern weil Belieferungspannen, Ausfälle oder Nichtnutzbarkeit gemeldet und bearbeitet werden müssen. Ist es aber tatsächlich notwendig, seine Versicherungsangelegenheiten mitten in der Nacht oder am Sonntag telefonisch zu klären? Muss ich morgens um 5.00 Uhr eine telefonische Rückfrage zu meinen Retouren aufgeben können? Eine Standardantwort wäre hier zu schwarz/weiß, aber es sollte darüber nachgedacht und vor allem abgewogen werden. Die "Rund um die Uhr" Erreichbarkeit ist schon lange kein Servicemerkmal mehr. Vor allem nicht, wenn sie sich lediglich auf die Aufnahme von Kundenanliegen fokussiert. Wir alle kennen Situationen, in denen wir mit einem freundlichen 1st Level Mitarbeiter zu tun haben, der uns aber dann mit der „Fachabteilung" verbinden muss, die leider nicht erreichbar ist. Service Level: Check. Kundenzufriedenheit: No check!
Worauf es dem Kunden tatsächlich ankommt ist, dass er eine Lösung für sein Anliegen erhält. Um die aus Kundesicht korrekte Lösung geht es. Keinem ist geholfen, wenn er für sein Anliegen drei oder mehr Kontaktversuche unternehmen muss. Keinem ist geholfen, wenn auf eine E-Mail ein Standardanschreiben als Antwort kommt. Servicequalität ist, die Summe der Leistungen rund um den Kunden. Nicht nur eine quantitative Erreichbarkeit - vor allem eine qualitative Lösung für das Problem.
...oder muss der Lehrplan verändert werden?
Betrachten wir doch den Service Level als das, was er ist. Eine Kennzahl, die Aufschluss über die Erreichbarkeit gibt. Nicht mehr und nicht weniger. Dementsprechend sollte er in der Kennzahlen- Hierarchie auch deutlich weiter unten angesiedelt werden. Letztendlich geht es im Kundenservice darum, den Kunden zu begeistern. Zieht man einmal Unwägbarkeiten ab und lässt die Romantik der Service-Prediger weg, geht es schlicht darum, den Kunden von der Serviceleistung zu überzeugen. Also müsste die prominenteste und wichtigste Kennzahl die Kundenzufriedenheit sein. Darunter können dann einzelne Bereiche abgebildet werden, wie zum Beispiel die Fachkompetenz, die Fallabschlussquote, die Erreichbarkeit und die Einhaltung von Zusagen. Letztere erklären gewissermaßen den Gesamt-Wert.
Liest sich relativ einfach - ist es auch. Wenn es um die bloße Abbildung und Darstellung der Kennzahlen geht. Wenn es aber darum geht, welche Aktivitäten bei Unterschreiten eines Schwellwertes einer Kennzahl unternommen werden, sieht es anders aus. Auch hier muss diese Hierarchie abgebildet werden. Es darf bspw. bei schlechter Erreichbarkeit kein Überlauf in eine „benachbarte" Abteilung stattfinden, die nicht denselben Skill hat, wie die eigentlich zuständige. Es dürfen auch keine „Aushilfen" zugeschaltet werden, die fachlich nicht genau so qualifiziert sind, wie die primären Mitarbeiter. Die Priorität der Steuerungsaktivitäten muss also ebenfalls der Kennzahlenhierarchie unterworfen werden. Hierfür braucht es klare Regelungen und Prozesse. Und vor allem darf das Management diese Regelungen nicht torpedieren, weil auf einmal doch wieder der Service Level das höchste Gut ist. Eine schwierige Gemengelage. Hier geht es um Überzeugungen, um Werte gegenüber dem Kunden. Hier muss man das Spannungsfeld, das sich mit einem neuen Steuerungskonzept ergibt, als Manager aushalten. Nur so wird konstant guter Service erzeugt und beibehalten werden.
Service entsteht durch sinnvoll ergriffene Maßnahmen. Und diese entstehen durch Werte und Überzeugungen. Und Servicequalität hauptsächlich am „Service Level" festzumachen, hat mit einem Serviceversprechen gegenüber dem Kunden nichts zu tun.
Hellhörig geworden? Lassen Sie uns gerne darüber reden. Die ZEITEIST Beratungsmanufaktur versteht sich als Sparringspartner für derartige Überlegungen und verfügt über umfangreiche Erfahrungen auf dem Gebiet der Service Weiterentwicklung.
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